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Manja

[…] ‘Der Tag der Vergeltung ist gekommen, ein neuer Geist geht durch das Land!« Laut und deutlich tönt die Stimme aus dem neuen Dreiröhrenapparat der Meißners aus dem Esszimmer der Wohnung, in die sie eingezogen waren, kurz nachdem die Roten aus dem Vorderhaus nachts über die Grenze gingen. Frieda steht auf dem Balkon im hellen Sonnenlicht, das über ihre Arme f1ießt, während sie in gleichen Abständen Stiefmütterchen in die Kisten pflanzt, die schönen grünen Blumenkisten, die die Feindin zurückgelassen hat. Bei Nacht und Nebel mit Mann und Kind über die Grenze. Weil Deutschland erwacht ist. Darum.

Frieda beugt sich über die Balkonbrüstung so weit über die Straße, wie sie sehen kann. Den halben Namen des Milchgeschäftes kann sie lesen und den Eingang des Seifenladens sehen, und jeden, der da geht, und jeden, der das Haus verlässt, und jeden, der es betritt. Gelbe und blaue Stiefmütterchen abwechselnd oder lieber die blauen in die eine, die gelben in die andere Kiste? Das ist regelmäßiger, ordentlicher. Mit dem Daumen drückt Frieda die Erde rechts und links von den zarten Pflänzchen zusammen und gießt sie. Der Wind spielt mit ihrem dünnen Haarknoten und zupft an ihrem Rock. Wind und Sonne hat Frieda jetzt, ohne dass sie hinausgehen muss. Wind auf dem bloßen Kopf und Sonne auf den sommersprossigen Armen.

»Eine neue Zeit bricht an«, sagt die dröhnende Stimme im Radio und Frieda fühlt sie zwischen den Fingern, die das lackierte Holz der Blumenkiste berühren, fühlt sie in der Sonnenwärme, die die gelbe Kopfhaut zwischen dem schütteren Haar liebkost. In der Hinterwohnung war es finster, die Blumen kamen nicht. Hier kommen sie. Erst die Stiefmütterchen, dann die Vergissmeinnicht, dann die Begonien. Ein Garten ist plötzlich um Friedas Leben gelegt, ein Kranz von Farbe und Glanz. Im Freien Kaffee trinken wie sonntags auf dem Land. Wie damals, als die Kirschen blühten und Anton unter dem Tisch ihre Hand nahm. Die Blumenkisten sind jetzt gefüllt mit den müden, noch nicht erblühten Pflänzchen. In vierzehn Tagen werden sie blühen. Frieda steht, die Hände über der mageren Brust gefaltet, und hält das zerknitterte Gesicht ins wärmende Licht. Und plötzlich sieht sie unten auf der Straße, den Kopf nach oben, ihre Nachbarin von früher stehen und mit gerecktem Hals und hervorquellenden Augen zu Frieda hinaufblicken mit dem gleichen Blick von Neid, mit dem Frieda all die Jahre auf den Balkon der Feindin geblickt hat, auf dem sie jetzt als Herrin steht. Das gibt ihr ein heftiges, sehr lange nicht mehr gekanntes Gefühl von Freude wie einen kleinen Schlag in die Brust. Die weiß bewimperten Augen werden feucht, die Zungenspitze gleitet über die blassen Lippen. Sie presst die gefalteten Hände an sich. Die Stimme im Radio schließt unter donnerndem Applaus: »Vieles ist getan und vieles bleibt noch zu tun. Aber wir haben keine Angst, denn der, der uns bisher geführt hat, wird uns weiterfuhren. Heil Hitler!»

Und Frieda steht wie eine verzückte Heilige eines gotischen Kirchenportals. Die lange Nase gesenkt, die dünnen Arme wie Flügel gebogen, geblendet von dem Glanz, der plötzlich in ihr Leben gekommen ist. Ein Balkon, auf dem die Blumen kommen, ein Balkon, der wie eine Hand ist, mit der man in das Abenteuer der Strafe greifen kann und wie ein Auge, das groß aufgeschlagen alle Ereignisse für sie aufspürt und auf dem man Kaffee trinken kann. Und dankbar und ergriffen spricht sie wie die Forme! eines Gebetes leise die Worte nach: »Heil Hitler!«

 

*

 

»Heil Hitler«, erwidert Leo Meirowitz den Gruß des SA-Mannes, der seinen Kleiderladen betritt. Warum nicht? Man muss mit der Zeit gehen. Sonst frisst sie einen auf. Den Kopf zur Seite gelegt wartet er, während sein Besucher an den Tisch tritt und aus einer Ledertasche ein Paket herausnimmt.

»Ich habe mir hier einen Anzug gekauft.«

»Ich erinnere mich«, bestätigt voll Entzücken Meirowitz. »Einen braunen gestreiften Sportanzug, stimmt’s oder stimmt’s nicht? Mein Gedächtnis.« Erwartungsvoll blickt er auf den Kunden, aber der antwortet nicht, öffnet das Paket und wirft den Anzug auf den Ladentisch. Der einzige Knopf, der am Rock ist, schlägt hart auf das Holz. Di Beine hüpfen über den Tisch und bleiben da hingen.

»Der Stoff war schlecht.« Er hebt das eine der leise schaukelnden Hosenbeine hoch. «Das Knie ist durchgewetzt.« Er reißt die Weste verächtlich in die Höhe und zeigt das verfärbte Armloch. Meirowitz nimmt den Ärmel des schmutzigen Anzugs und reibt ihn prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Was können Sie erwarten für zwanzig Mark?«, fragt er traurig.

»Ich werde den Anzug umtauschen.«

»Um tauschen ? Meirowitz’ Mund bleibt offen. «Sie haben doch den Anzug drei Monate getragen. Der Anzug ist ruiniert.«

»Ich werde ihn umtauschen«, wiederholt der Mann in der braunen Uniform und geht auf den Schrank zu, in dem die Sportanzüge hängen.

Meirowitz läuft verzweifelt hinter ihm her.

»Aber Herr Offizier«, jammert er, »das kann doch nicht Ihr Ernst sein.«

Er bekommt keine Antwort. Vor ihm ist ein breiter braun bespannter Rücken und eine Hand, die in seinen Kleiderschrank fasst, einen grauen, einen braunen, einen dunklen Anzug mit ihren Bügeln ungeduldig wegschiebt, schließlich einen blauen packt und ihn herausnimmt.

»Den nehme ich.«

»Das ist nicht dieselbe Preislage«, klagt Meirowitz. »Das ist das beste Stück, das ich auf Lager habe, englische Ware. Er kostet mich hundert Mark.«

»So einer wie Sie hat froh zu sein, dass man ihn nicht hinauswirft und wegen Betrugs ins Gefängnis setzt.« Der blaue Anzug hängt über dem Arm wie eine ohnmächtige Frau. Sein Anblick schneidet Meirowitz ms Herz.

»Aber .. . «, beginnt er, »das ist doch . . . « Er spricht nicht zu Ende. Plötzlich, durch eine Bewegung seines Besuchers hat er draußen fünf braun gekleidete Männer gesehen, die in der Gasse langsam hin und her gehen, und er hat verstanden.

»Also, unser Geschäft ist perfekt«, bemerkt der Besuch.

Meirowitz lächelt. Er lächelt auch, während er den blauen Anzug sorgsam verpackt.

»Beehren Sie mich wieder«, sagt er in der Tür. Dann setzt er sich auf den Hocker beim Ladentisch und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

»Wenn ich mir ein Sarggeschäft kauf, kein Mensch wird mehr sterben.« Dann, wie die Schritte verhallt sind und keiner mehr zu sehen ist, lässt er den Rollbalken herab, denn noch ein paar solche Kunden — Gott behüte — und er kann sich aufhängen. Das ist der Tiefpunkt seines Lebens. Das Geschäft zumachen und die Kunden aussperren müssen, am hellen Tag Feiertag machen vormittags um elf. […]

 

Tratto da:

Anna Gmeyer, Manja. Ein Roman um fünf Kinder. Mannheim, 1984, dal capitolo Lanterna magica, pp. 191- 193.

 

 

 

Anna Gmeyner